Volkstrauertag 2004

"Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger,

Wir stehen vor den Gedenktafeln zur Erinnerung an die gefallenen Soldaten der Weltkriege, überwiegend jungen Männern aus den heutigen Gemeinden Ulsnis und Steinfeld.

Wir gedenken damit in Trauer am heutigen Tage aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, denn aus dieser Trauer heraus, der Erinnerung des Herzens, entsteht eine Verpflichtung für den Frieden, eine Verpflichtung, damit sich dieses Leid nicht wiederholen möge; dieses Leid zukünftigen Generationen erspart bleibt.

Somit gibt uns der Volkstrauertag Gelegenheit, über Vergangenes nachzudenken und gleichzeitig den Blick für die Gegenwart und die Zukunft zu öffnen. Hierin liegt die wahre Bedeutung und der tiefe Sinn dieses Tages.

Dieser Tag hieß zu Zeiten des Nationalsozialismus „Heldengedenktag“, doch als Helden werden sich die Soldaten in der Stunde des Todes wohl am wenigsten empfunden haben, sondern vielmehr als Opfer des Wahnsinns. Denn: Was würden wir heute sagen, wenn am Ersten eines Monats eine Armee in der Stärke der Bundeswehr an einen Einsatzort kommandiert werden würde, und nach dreißig Tagen hätte niemand überlebt. Wenn das Gleiche sich Monat für Monat wiederholen würde. Dies war die Realität von Juli 1944 bis Mai 1945 für die deutsche Armee, zehn Monate lang.

Aber dies ist nur ein Teil des Schreckens

Während der Ostermärsche gegen die Wiederaufrüstung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren zogen die Demonstranten folgenden Vergleich: Würde Adolf Hitler einen „Reichsparteitag der Toten“ abhalten, und würden die Toten seines Krieges an ihm vorbei defilieren, dann bräuchten allein die Toten Frankreichs über zwei Tage lang. Zwei Tage, Tag und Nacht, in jeder Sekunde drei Mann. Und erst die Toten des ganzen Zweiten Weltkrieges! Es benötigten auf dem „Parteitag der Toten“ für ihren Vorbeimarsch Die Gefallenen: Zwei Monate. Die Ermordeten: einen Monat. Die in Konzentrationslagern Umgebrachten: anderthalb Monate. Das wären viereinhalb Monate lang! Tag und Nacht!

Ununterbrochen in jeder Sekunde drei Mann

Es ist unvorstellbar: Während im Ersten Weltkrieg zehn Millionen Menschen ihr Leben verloren, waren es im Zweiten Weltkrieg mehr als 55 Millionen, darunter 3,1 Millionen deutsche Soldaten und 13,6 Millionen sowjetische Soldaten.

Das vollständige Ausmaß der Gewalt von sechs Jahren Weltkrieg aber haben wir erst, wenn wir die systematisch Bombardierung der Städte hinzurechnen: Angefangen im spanischen Guernica, Rotterdam, das englische Coventry usw., dann die deutschen Städte – sowie die Deportationen in die Zwangsarbeit, seitens Deutschlands, seitens der Sowjetunion die Flucht und die Vertreibung der Zivilbevölkerung, zuletzt der polnischen Bevölkerung aus den polnischen Ostgebieten und der deutschen Bevölkerung aus den deutschen Ostgebieten.

Das, was Deutschland als kollektive Schuld inszeniert hatte: Die Juden, deren systematische Vernichtung auf der Wannseekonferenz beschlossen wurde, die Zigeuner, die Russen – traf nun in gleicher Härte als kollektive Schuld: die Deutschen. Wir Deutschen als Täter und Opfer. Scham und Schuldgefühle haben die Menschenrechtsverletzungen der Sieger über viele Jahre mit einem Tabu belegt.

Wer nun glaubt, dass dieses unvorstellbare Leid die Welt für alle Zeiten kuriert hätte, sieht sich getäuscht. Während Europa bis zu den Balkankriegen von Kriegen verschont blieb, hat es seit 1945 unvermindert Kriege in vielen Teilen der Welt gegeben, oftmals Stellvertreterkriege. 2001 gab es weltweit 46 Kriege. Bezeichnend für diese Kriege ist, dass der Anteil der getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zu den getöteten Soldaten steigt. So fern das Kriegsgeschehen auch ist, die Waffen, die Minen stammen vielfach aus europäischen Arsenalen und Produktionsstätten. Es ist ein Handel mit dem Tod.

Wenn wir an dieser Stelle der Toten der Kriege gedenken, dann sollten wir auch an den polnischen Soldaten Wladyslaus Krosniewski denken, der unweit dieser Erinnerungsstätte begraben liegt unter einem zerbrochenen eisernen Kreuz; dann sollten wir auch an Ryszna Klayna denken, die 18jährige polnische Zwangsarbeiterin, die beim Bombenabwurf auf Ulsnis in Kirchenholz ums Leben kam und am Karberg beigesetzt ist.

So sehr der Tag auch von Schmerz und Leid geprägt ist, er bietet die große Chance zur Versöhnung der Völker über den Gräbern, die große Chance, eine gerechte Welt in Frieden und Freiheit zu verwirklichen."